Die unverstandene Gesellschaft

 

Demokratie lebt von Meinungsvielfalt. Dieser Satz wurde in der Vergangenheit so oft bemüht, dass er nunmehr wie eine Floskel anmutet. Er ist aber keine, denn die besagte Meinungsvielfalt ist Teil eines Prozesses, der im Idealfall zu einer Balance führen sollte, welche die Kompromisse erzeugt, die die Interessen des größten Teils der Bevölkerung in sich vereinen können. So zumindest lässt sich der Grundgedanken beschreiben. Zu dieser Meinungsvielfalt gehören immer auch kämpferische Extreme, gefährliche Auswüchse und auch schlichter Unsinn. Das ist gelegentlich schwer zu ertragen, aber Demokratie und vor allem der Rechtsstaat können das, denn sie sind, im Vergleich zu manchen Konstellationen der Vergangenheit, wehrhaft. Am Ende sollte der Ausgleich stehen und niemals die Alternativlosigkeit. 

 

These, Antithese, Synthese

Wenn im Rahmen der Corona-Krise nun die zwei Pole Sicherheit und Freiheit aufeinandertreffen, so ist das keine fatale, sondern vielmehr eine begrüßenswerte Entwicklung, denn sie zeugt von der Lebendigkeit der Auseinandersetzung. Droht das Übergewicht der einen Seite, so bedarf es einer Gegenkraft, um anschließend einen Ausgleich zu erzeugen. These, Antithese, Synthese – ganz im Sinne Hegels, wenn man diesen Philosophen denn präferiert. Es handelt sich um eine natürliche und gesunde Entwicklung. Ein blühender Garten voller verschiedener Pflanzen, in dem das Unkraut durch die zarten Hände des Gärtners „Rechtsstaat“ ausgesondert werden kann und muss. Dass manche Blume eine andere nicht sonderlich schätzt, man denke hier nur an das Gegensatzpaar „Marktradikalismus/starker Staat“ als Beispiel, ändert dabei nichts an der Legitimität deren Anwesenheit auf der vielfältigen Wiese.

Das ist der demokratische Konsens, der allgemeine Akzeptanz finden sollte. Nur, warum erscheint es notwendig, derartige Selbstverständlichkeiten zu betonen? Vielleicht, weil sie nicht mehr die Rolle spielen, die sie spielen sollten? Weil es scheinbar nicht gelungen ist, ihn in das 21. Jahrhundert zu transferieren und dort zu verankern? Weil die Idee selbst nun andere Bedingungen vorfindet? Eine andere Gesellschaft, mit der auf eine abweichende Art und Weise kommuniziert werden muss, um die Vorzüge verschiedener Pflanzen und Blumen, oder gar des chaotischen demokratischen Garten selbst, zu präsentieren?  

 

Gesellschaftliche Entwicklungen im 21. Jahrhundert

Damit erreichen wir letztendlich einen zentralen Punkt: Die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte und im 21. Jahrhundert. Passt diese überhaupt zu alten Vorstellungen? Wie ist diese Gesellschaft überhaupt strukturiert? Was macht sie aus? Was sind die dominierenden Faktoren? Was bewegt sie?

Oft hört und liest man von einem Riss, doch derartiges suggeriert, dass es grob vereinfacht, lediglich zwei Teile gibt, die sich unversöhnlich gegenüberstehen. Es gaukelt eine gewisse Blockhomogenität vor, die es tatsächlich nicht gibt. Die Gesellschaft ist längst in viele einzelne Lebenswirklichkeiten zerfallen, die teilweise völlig unterschiedliche Lebensweisen, Werte und Normen aufweisen. Und sie erodiert weiter. Es gibt daher keine wenigen Blöcke, sondern viele. Manche davon sind lauter, manche leiser. Es entstehen Konflikte, die letztendlich zu sogenannten Milieukämpfen führen, die heute weitaus wichtiger sind, um gesellschaftliche Entwicklungen zu erklären, als irgendwelche Klassentheorien. 

Parallel dazu, tragen Verhaltenskapitalismus, die moderne Reizgesellschaft und die Entwicklung des Homo stimulus massiv dazu bei, einen Individualisierungsprozess voranzutreiben. Gerade die Nebenerscheinungen der Corona-Krise ist ein Brennstoff, um die Macht des Verhaltenskapitalismus noch schneller auszubauen, denn es sind die Verhaltenskapitalisten, die großen Internetfirmen, welche wirtschaftlich die größten Profiteure der Pandemie sein werden. Eine Entwicklung, die kaum thematisiert wird.

Milieurolle und Individualisierungsprozess stoßen zudem aufeinander und lösen eine Identifikationsdissonanz aus.

    

Gesellschaftliche Entwicklungen verstehen und daraus lernen

In der Summe ist die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts komplex, aber in ihrem Verständnis liegt der Schlüssel für künftigen sozialen Frieden und demokratischer Balance. Daher scheint es an der Zeit zu sein, die bisherigen Klassifizierungsmodelle- und Theorien für die gesellschaftliche Entwicklung zu ergänzen, denn das Zeitalter des kollektiven Individualismus ist längst angebrochen. Es ist wenig hilfreich, die Illusion aufrecht erhalten zu wollen, dass noch die nationalen oder globalen Strukturen des 20. Jahrhunderts dominieren würden. Die Welt schreitet voran, wir sollten nicht stehenbleiben, denn sonst lässt sie uns einst zurück.

 

Dieser Beitrag von Andreas Herteux wird in diversen nationalen und internationalen Medien veröffentlicht. Er ist Autor, Publizist, Wirtschaftswissenschaftler, Sozialforscher und der Leiter der Erich von Werner Gesellschaft, einer unabhängigen Einrichtung, die sich mit der Analyse gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Realitäten auseinandersetzt und Lösungskonzepte für eine bessere Zukunft entwickelt.

 

Inhaltlich bezieht er sich auf folgende Monografien/Bücher:

 

Definitionen und Glossar

 

Verhaltenskapitalismus

Unter Verhaltenskapitalismus versteht man eine Spielart des Kapitalismus, in der menschliches Verhalten zum zentralen Faktor für die Produktion und Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen wird.

 

Homo stimulus

Unter einem Homo stimulus versteht man eine derartig konditionierte Person, die an eine permanente Konfrontation mit hochfrequentierten, kurzen sowie künstlichen Reizen gewöhnt ist und sich ihnen kaum oder nur teilweise entziehen kann oder will. Im Gegenteil werden bestimmte Reize oft selbst eingefordert oder ein entsprechender Reizdialog angestoßen.

 

Kollektiver Individualismus

Unter einem kollektiven Individualismus wird ein Individualismus verstanden, bei dem das Individuum so eingebettet wird, dass die individuelle Selbstentfaltung innerhalb eines nicht oder kaum sichtbaren Rahmens stattfinden kann. Der kollektive Individualismus ist zugleich die Bezeichnung einer Zeitperiode.

 

Milieukampf

Milieukampf bedeutet, dass sich zwischen den Lebenswirklichkeiten (Milieus) einer Gesellschaft (oder mehrerer Gesellschaften) Konflikte ergeben, die aktiv oder passiv ausgetragen werden.

 

Milieukonflikt

Dem Milieukampf gehen stets Milieukonflikte voraus.

Milieukonflikte sind Konflikte, die dann begründet werden, wenn die Bedürfnisse der Milieubildenden teilweise oder gänzlich unerfüllt bleiben bzw. das Selbstverständnis der Lebenswirklichkeit attackiert wird.

 

Moderne Reizgesellschaft

Unter einer modernen Reizgesellschaft versteht man einen Zusammenschluss von Individuen, der in starker Frequenz beeinflussenden, in der Regel künstlich erzeugten Reizen ausgesetzt ist und sich diesen nur schwer oder nicht entziehen kann bzw. das zum Teil auch nicht möchte.

 

Identifikationsdissonanz

 

Die Theorie der modernen Identifikationsdissonanz, die voraussetzt, dass die Erosion der Lebenswirklichkeiten sich dynamisiert hat und die Möglichkeiten der Selbstentfaltung sich potenziert haben, besagt, dass es zunehmend Konflikte des Einzelnen bezüglich der eigenen Rolle als Teil eines Milieus und des persönlichen Individualisierungs- und Einbettungsprozesses geben kann und diese langfristig Einfluss auf die gesellschaftlichen Entwicklungen und Strukturen nehmen werden.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0